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Kino - dafür werden Filme gemacht

Memento

"Residenz" Bückeburg (13.12.2001)

Kritik von Johannes Pietsch

Bei vielen Hollywoodfilmen überfallen den Zuschauer heutzutage trotz großspuriger Ausstattung, teurer Darsteller oder aufwendiger Special Effects schon nach wenigen Minuten massive Déjà-vú-Gefühle. Nur selten finden sich in der Flut einfallslos nacherzählter, stets aufs Neue aufgewärmter und sich fast nur noch selbst rekapitulierender Filmhandlungen einmal Stories mit wirklich innovativen, überraschenden Ansätzen, so wie bei David Finchers "Fight Club" oder Bryan Singers "The Usual Suspects". Und dann, ganz selten, gibt es jene Glücksfälle, die jede Erwartungshaltung des Zuschauers, jede vorgefertigte, gedankliche Handlungsschablone ad absurdum führen. Jungfilmer und Drehbuchautor Christian Nolan ist mit seinem zweiten Werk nach seinem aufsehenerregenden Debüt "The Following" ein solcher Geniestreich gelungen: Ein atmosphärisch unglaublich dichtes, fesselnd konstruiertes und adäquat optisch umgesetztes Meisterwerk.

Ein Mann mit einer Waffe, ein Schuss in den Kopf, ein entsetztes Gesicht - "Memento" beginnt mit einem Mord und damit gleich mit dem genialischen Salto Mortale seiner Erzählstruktur: Denn die Kugel tritt nicht in den Kopf ein, sondern aus ihm aus, das zerschmetterte Gesicht setzt sich wieder zusammen, und das Projektil fliegt wieder in den Lauf zurück. Christian Nolan geht auf der Zeitachse seiner Geschichte eines angekündigten Todes rückwärts, erzählt die Story in gestaffelten Rückblenden und rollt daher den makaberen Todesreigen chronologisch von hinten auf. Statt der aus konventionellen Thrillern sattsam bekannten Frage "Was passiert als Nächstes?" stellt Nolan die Frage nach den kausalen Zusammenhänge, die sich für den Zuschauer nur stückweise durch das Zusammensetzen von Mosaikstücken ergeben.

Mit dem Stilmittel, kausale Abläufe und chronologische Sequenzen verschränkt gegeneinander laufen zu lassen, kontrastiert Christopher Nolan zugleich den zweiten großen Clou des Films: Leonard Shelby, der von Guy Pearce gespielte Protagonist der Story, hat drei Jahre vor Einsetzen der Handlung bei einem Überfall eine schwere Kopfverletzung erlitten und dadurch sein Kurzzeitgedächtnis verloren. Lenny weiß, wie er heißt, wer er ist und wo er herkommt, die Kontinuität seiner Erinnerungen reicht aber nur bis zum Zeitpunkt des Überfalls. Anschließend verlieren sich sämtliche Erlebnisse, Eindrücke, Erfahrungen und Überlegungen nach wenigen Minuten im Nebel der Erinnerung, so dass der tragische Held von Christopher Nolans Film schon verzweifelt anmutende Strategien gegen seine Kurzzeit-Amnesie entwickelt hat: Leonard Shelby, der mit der Attitüde eines erfolgreichen, schnittigen Dressmans auftritt, in Wirklichkeit aber ein derangiertes, von den Gespenstern der Vergangenheit gejagtes Wrack ist, notiert sich alles Wichtige auf kleinen Notizzetteln und lässt sich wirklich entscheidende Dinge auf seinen Körper tätowieren, um sie nicht zu vergessen. Lennys Leben ist seit dem Überfall ein chaotisches Durcheinander, welches der schwer Traumatisierte mit eiserner Willenskraft nur durch ein Lebensziel nicht völlig aus den Fugen geraten lässt: Er will jenen Täter aufspüren und zur Strecke bringen, der ihm die Kopfverletzung zufügte und den er für den Mörder seiner Frau hält.

Nolans virtuoses Verwirrspiel mit Erinnerungslücken und abwärts kaskadierenden Zeitebenen ist zugleich existentialistisches Neo-Noir-Experiment und perfekt illustrierte Reise in die Schizophrenie: Seine Hauptfigur ist ständig unterwegs und dennoch in einer Endlosschleife gefangen. Die Idee von der Kurzzeitamnesie symbolisiert die schizophrene Grundangst vor dem Entzug der eigenen Gedanken. "War ich früher derselbe oder ein anderer?" lässt Max Frisch seine Romanfigur "Stiller" fragen. Ohne eigene Erinnerung tastet sich Leonard Shelby wie ein Blinder durch ein Meer von Treibsand, klammert sich verzweifelt an die makaberen Gedankenstützen aus Polaroidphotos und Körpertätowierungen sowie an den intakten Teil seiner Erinnerungen vor dem Überfall. "Ich weiß, wer ich bin", sagt Lenny an einer Stelle des Films und will damit vor allem sich selbst überzeugen. "Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können", schrieb der französische Dichter Jean-Paul. Leonard Shelby jedoch hat den Ereignishorizont hinter diesem Paradies für immer überschritten: Apocalypse now.

So wie sich Lenny nicht erinnern darf, verweigert Christopher Nolan dem Zuschauer den Blick auf die Zusammenhänge, zwingt ihm förmlich die Denkweise des Protagonisten auf, der sich seine Wirklichkeit ja auch ständig neu entschlüsseln muss, und enthüllt die verstörende Wahrheit erst durch die rückwärts gewandten Zeitsprünge. Dabei reißt der Film sich nicht wie "The 6th Sense" oder "Fight Club" mit einer radikalen Wendung am Schluss die Maske vom Gesicht, sondern gibt seine Geheimnisse etappenweise und mit eiskalter Gelassenheit preis. Nicht alle Rätsel werden enthüllt, aber viele der Lügen, von denen sich Leonard Shelby ebenso manipulieren ließ wie der Zuschauer. "Memento" bietet nicht die plötzliche eiskalte Dusche, sondern explodiert langsam im Kopf des Betrachters. Und das noch lange, nachdem Abspann verklungen ist.

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Diese Kritik ist die Meinung von Johannes Pietsch.

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