Die allgemeine Bedeutung des Begriffs Angst ist die gleiche wie seines
lateinischen Ursprungs anxietas, ein Erleben sich verändernder
Mischungen von Ungewissheit, Erregung und Furcht, wobei die lateinische
Konnotation noch eine Vorstellung von Strangulation mit einschließt.
Nach einer heute vergleichsweise weit verbreiteten operationalen
Definition ist die Angst das autonome und für jeden individuellen
Organismus charakteristische Reaktionsmuster auf Reizung durch ein
schädigendes Agens. Angstpsychologische Definitionen drehen sich um
Begriffskomplexe wie Unbehagen, negative Vorahnung drohender oder
eingebildeter Gefahr, Unfähigkeit und Ohnmacht, dieser zu begegnen. Im
alltäglichen Sprachgebrauch wird dabei die Vokabel Angst sowohl für die
Furcht, die physiologisch der Erregung des Sympathikus durch eine
Bedrohung entspricht, als auch die allgemeinere, ungerichtete Angst
verwendet. Der wissenschaftliche Sprachgebrauch bemüht sich um eine
Abgrenzung der beiden Begriffe, so im Bereich der kognitiven
Psychologie, wo Furcht als Begleitmotion der Flucht beschrieben wird,
Angst hingegen als Gefühl einer als gefährlich erlebten Situation ohne
Bewältigungsmöglichkeit. Und genau in dieser sprachlichen Diskrepanz
zweier Begriffe liegt im Kern auch das Unterscheidungsmerkmal für die
Qualität eines Horrorfilms: Während ein schlechter Film dieser Gattung
durch Schockdarstellungen, Tricksequenzen oder explizite
Gewaltdarstellungen allenfalls Erschrecken auszulösen vermag, kann ein
guter seinen Rezipienten mit einem Gefühl ständiger Beklommenheit und
diffuser, ungerichteter, im psychologischen Sprachgebrauch
frei-flottierender Angst gefangen nehmen. Gore Verbinskis
Horrorfilm-Remake "The Ring" ist ein solcher.
Noch mehr jedoch gilt dieses Qualitätsmerkmal für das japanische
Original "Ringu", Hideo Nakatas Verfilmung des gleichnamigen Romans von
Kijo Suzuki, dem in Japan kommerziell eine ähnliche Stellung zukommt wie
in Amerika Stephen King. Nakatas Film avancierte 1998 auf dem
asiatischen Kinomarkt zu einem der erfolgreichsten Blockbuster aller
Zeiten, sorgte 1999 auf den europäischen Fantasy-Film-Festivals für
Furore und zog in Japan eine Fortsetzung und ein Prequel, in Korea
inzwischen ein erstes und nun in Amerika ein zweites Remake nach sich.
Und das geriet entgegen aller Erwartungen - schließlich ist die 1996
durch "Scream" ausgelöste Retro-Horror-Welle schon seit mehr als zwei
Jahren mausetot - in Amerika zu einem der größten Überraschungserfolge
der letzten Monate.
Kijo Suzukis Geschichte, die abgesehen vom Geschlecht der Hauptfigur und
größtenteils unter Verzicht des gedanklichen Tiefgangs ohne große
Änderungen von den filmischen Adaptionen übernommen wurde, ist
erzählerisch und atmosphärisch in drei Teile unterteilt, die gänzlich
unterschiedlichen Genres zuzurechnen sind. Film und Roman beginnen mit
einem Motiv, welches vor allem während der Horror-Welle Mitte der 90er
Jahre - zu diesem Zeitpunkt entstand der Roman - oft und gern bemüht
wurde: Den makaberen zeitgenössischen Märchen und Mythen der Großstädte,
jenen modernen Sagen und Geschichten, die unter Freunden, Bekannten und
Kollegen so lange tradiert werden, bis sie sich im kollektiven
Unterbewusstein festgesetzt haben. Denn was früher Feen und Gnome waren,
sind mittlerweile Elvis und die Aliens. Alle Aufklärung und
Zivilisation hat es nicht geschafft, solche Ängste zu bannen; statt in
der Natur finden sie sich nun in unserem hoch technologisierten Alltag
wieder. "Urban legends" lautet dafür der von der amerikanischen
Sozialwissenschaft geprägte Begriff. Statt der finsteren Wälder und
Höhlen, aus denen einst das Gespenstische kroch, lehren uns
Abwasserkanäle, düstere Straßenschluchten, finstere Aufzugsschächte und
sinistre Hochhäuser das Fürchten.
Auch in "The Ring" lauert das Verderben in einem Gegenstand des
alltäglichen Gebrauchs: Da soll es eine Video-Cassette mit tödlichen
Folgen für den Betrachter ihres Inhalts geben, so der unheimliche
Ausgangspunkt der Story, ein Videoband, das die Betrachter der auf ihm
gespeicherten wirren, angsteinflößenden Bilder nach einer Galgenfrist
von sieben Tagen sterben lässt. Schon im Auftakt zelebriert der Film -
bedingt durch den Entstehungszeitraum des Romans während der
"Scream"-Ära - das eherne, unverrückbare Reglement aller Slasher- und
Gruselfilme: Zwei Teenager unterhalten sich über die urbane Legende des
Videos, und noch während die beiden Mädchen über den vermeintlichen
Teenie-Scherz kichern, schwant dem Slasher-geschulten Zuschauer durch
das abgedunkelte Setdesign und Hans Zimmers düster-wabernden Score
längst das bevorstehende Grauen. Nur eine Stunde später ist eines der
Mädchen tot, das andere ein Fall die Klapsmühle und die Marschrichtung
für das geisterhafte weitere Geschehen vorgezeichnet.
Nach dem tragischen Tod des jungen Mädchens versucht deren Tante (im
Roman ist es der Onkel), dem schaurigen Geheimnis auf die Spur zu
kommen. Naomi Watts, David Lynchs faszinierende Entdeckung aus
"Mulholland Drive", spielt die Zeitungs-Journalistin Rachel, deren
Nichte ebenso wie drei weitere Jugendliche durch den Konsum des Videos
ein schreckliches Ende fand. Auf der Suche nach dem Killer-Tape wird
Rachel schneller fündig, als ihr lieb ist, und kann - wer hätte es
anders gedacht - der Neugierde nicht widerstehen, das Band selbst in den
Player zu legen. Was sie nie hätte tun dürfen, denn natürlich beginnt
auch für die Journalistin in diesem Moment der unaufhaltsame Cuntdown:
Noch sieben Tage!
Schon das Video, von dem im japanischen Original weniger und das auch
nur verschwommen zu sehen ist als im amerikanischen Remake, ist ein
kleines, verstörendes Schreckensszenario für sich. Die bizarren,
surrealistischen Bilder von Maden, abgetrennten Fingern, geisterhaften
Figuren im Spiegel und einer Gestalt, die von einer Klippe stürzt,
erinnern intensiv an die alptraumhaften Bildkompositionen eines Luis
Bunuel oder Salvador Dali und damit vor allem an die Traumbilder aus
Hitchcocks "Spellbound".
Der Auftakt lässt den Schrecken sich inmitten des urbanen
Großstadtdschungels etablieren, wo technische Geräte wie Fernsehapperate
oder Videorekorder unversehens zu Durchbruchspforten für die bösen
Schatten jenseitiger Welten mutieren und damit wie Tobe Hoopers
"Poltergeist" an so mancher kindlichen Urangst rühren, was für Gestalten
sich wohl hinter der undurchdringlich flimmernden Mattscheibe existieren
und aus ihr hervorbrechen mögen.. Dass die zukünftigen Opfer des letalen
Videobandes vor ihrem Tod auf Fotographien verzerrt, entstellt und
verschwommen dargestellt werden, ist eine deutliche Referenz auf "The
Omen", Richard Donners Horrorklassiker von 1975 über die Geburt des
Antichristen, an den noch an anderer Stelle erinnert wird.
Mit Rachels Ermittlungen über die Herkunft des Videos springt die
Handlung auf eine einsame Insel vor der Küste Neuenglands, und auf
einmal findet sich der Zuschauer in einer gotischen Gespenstergeschichte
wieder. Die Überfahrt mit der Fähre stilisiert den Übertritt aus der
realen Welt in eine jenseitige Sphäre, in der die düsteren Schatten der
Vergangenheit allgegenwärtig sind. Eine verglichen mit dem Rest des
Films ungewöhnlich explizite, naturalistische Schocksequenz mit dem
Amoklauf eines Pferdes bildet das Fanal für Rachels Reise ins Herz der
Finsternis. Wabernde Nebenschwaden, einsam gelegene Gehöfte bilden das
Ambiente für die verrätselte Spurensuche, die Rachel und ihren Ex-Mann
Stück für Stück zum düsteren Kern des Geheimnisses führt und viele
Elemente der klassischen Schauerliteratur eines Edgar Allen Poe, eines
E.T.A. Hoffmann und speziell eines Howard Philipps Lovecraft bemüht.
Phasenweise gelingt "The Ring" dabei eine superbe Schaueratmosphäre. Das
Verderben scheint überall zu lauern, die Angst entspringt keinen
plötzlichen, plakativen Buh-Effekten, sondern subtilen, verstörenden
Fingerzeigen und Indizien auf den bevorstehenden Terror. Plötzliches
Nasenbluten, unerklärliche Handabdrücke oder eigentümliche optische
Täuschungen künden von der Allgegenwart des Grauens. Je näher jedoch die
Heldin und damit auch der Zuschauer dem Geheimnis des Videobandes
rücken, je deutlicher sich die Konturen jener jahrzehnte zurückliegenden
Ereignisse in dem kryptischen Puzzlespiel abzeichnen, desto weniger
beklemmend wirkt das Verwirrspiel, denn so wie sich Schicht für Schicht
das Rätsel um das mörderische Video und die darauf abgebildeten Personen
und Ereignisse lüftet, desto deutlicher entpuppt sich das zunächst so
undurchschaubare Schauerstück als sehr konventionelle und nebenbei
überaus westlich geprägte Gespenstergeschichte. Dass jedoch auch die
noch formidabel zu erschrecken weiß, beweist der dritte, wiederum in der
Großstadt angesiedelte Teil des Films, der den Zuschauer mit einem
schockierenden Schlussakkord in die Magengrube trifft und dabei Gedanken
an E.F. Bensons "Turmstube" aufkommen lässt, ohne dabei das in den
letzten Jahren so unendlich oft bemühte und dadurch entsprechend
abgenutzte Prinzip des ach so überraschenden Plottwists am Schluss
bemühen zu müssen.
Ein kleiner, aber feiner Geisterfilm ist das, mit einem überzeugenden
Ensemble, einem düster-deprimierenden Score und beeindruckend
stimmungsvollen Bildern. Regisseur Gore Verbinski hat die morbide
Geschichte, auch wenn sie am Schluss etwas zu durchschaubar wirkt,
einfallsreich und stilvoll inszeniert und Visionen und Vorahnungen zu
einer fesselnden und ungemütlich beklemmenden Gruselmär montiert.
Naomi Watts vermag als rustikales, amerikanisches Pendant der
sphärischen Nanako Matsushima im Original mit einer glaubhaften Mischung
aus Entschlossenheit und sich steigernder Panik zu überzeugen. Die
Darstellung von David Dorfman als Rachels Sohn Aidan lehnt sich deutlich
an Haley Joe Osments jungen Geisterseher aus "The 6th sense" an, was auf
Grund der Konzeption beider Figuren kaum zu vermeiden ist: Auch Aidan
sieht tote Menschen, und sie sagen ihm Dinge, die in der realen Welt
über Leben und Tod entscheiden können: "Don't you understand, Rachel?
She never sleeps..." Martin Henderson ("Windtalkers") als Rachels
Ex-Mann Noah spielt nicht weiter beachtenswert, wohingegen Brian Cox,
der einst in Michael Manns "Manhunter" als erster dem feingeistig
kultivierten Anthropophagen Hannibal Lector diabolisches Gesicht
verlieh, als von den Geistern der Vergangenheit gejagter Einsiedler ein
brilliantes Kabinettstückchen liefert.
Man sagt immer, Japaner seien die schlechteren Erfinder, aber die viel
besseren Vermarkter. Beim Faxgerät war dies so, das in Deutschland
erfunden wurde und als japanisches Produkt seinen Siegeszug um die Welt
antrat. Die in den Vereinigten Staaten entwickelte VCR hatte
kommerziell auch erst durch die japanische Industrie Erfolg, und das
inzwischen in sämtlichen Behörden und Industrien grassierende Unwesen
des Qualitätsmanagements wurde ebenfalls in den USA von zwei
Wirtschaftswissenschaftlern erfunden, bevor die Japaner daraus eine
Religion für das produzierende Gewerbe in aller Welt machten. Jetzt, im
Jahr Sieben nach "Scream", kehrt der japanisch recycelte Horror als
amerikanische Wiederaufbereitung aus dem Land der aufgehenden Sonne zu
uns zurück.
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