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Kino - dafür werden Filme gemacht

From Hell

"Residenz" Bückeburg (03.03.2002)

Kritik von Johannes Pietsch

Jack the Ripper ist sicherlich neben dem Kennedy-Attentäter der bekannteste Unbekannte der Kriminalgeschichte. Wie kaum ein anderer avancierte der Dirnenmörder, dem im London des Jahres 1888 fünf Prostituierte auf bestialische Weise zum Opfer fielen, zum Archetypen des dämonischen, gesichtslosen Serienkillers und damit zum geistigen Urahn all jener Jasons, Michael Meyers und Hannibal Lectors, die bis heute die Leinwand bevölkern. Die ungeklärte Identität des Täters stellt ein Faszinosum dar, welches bis heute nichts von seiner morbiden Anziehungskraft eingebüßt hat, und spornte Schriftsteller wie Filmemacher zu den kuriosesten Enthüllungstheorien an. Ärzte, Maler, Musiker, Politiker, Freimaurerlogen, ja sogar Angehörige des britischen Königshauses wurden vergangenheitlich bereits literarisch zu Urhebern der schaurigen Mordserie erkoren.

Die Reihe der Verfilmungen reicht von Alfred Hitchcocks "The Lodger" von 1926 (Hitchcock nannte seinen Mörder darin allerdings im Gegensatz zur literarischen Vorlage anders) über typischen 70er-Jahre Trash wie Jess Francos "Jack the Ripper" mit Klaus Kinski bis zu jüngsten und zweit- bis drittklassigen TV- und Videoadaptionen. Selbst Genre-übergreifend zog der Schlächter von Whitechapel seine blutige Spur, unter anderem in Frank Wedekinds Schauspiel "Lulu", in Science-Fiction Filmen ("Time After Time") oder im Fantasy-Horror ("Waxwork II"). Jack the Ripper mag nicht der erste Serienkiller der Kriminalgeschichte sein, er ist aber sicherlich der Populärste, ein Mythos, das als finsteres Gothic-Phantom mit schwarzem Zylinder und wallendem Umhang Eingang in die Popkultur fand.

Und dort finden wir ihn als zentrale Figur des ganz in Schwarz-Weiß gehaltenen Comicmeisterwerkes "From Hell", mit dem sich Eddie Campbell und Alan Moore des diabolischen Dirnenmörders annahmen. "From Hell" stand nämlich auf einem Paket zu lesen, in dem der Chef der aus Anlass der Mordserie gegründeten Londoner Bürgerwehr eine halbe Niere und den Hinweis, die andere Hälfte sei vom Absender verspeist worden, geschickt bekam. Das regieführende Brüderpaar Albert und Allen Hughes ("Menace II Society") adaptierte den Comic zu einer beinahe ebenso meisterlichen filmischen Schauermär. Nur beinahe meisterlich vor allem deshalb, weil eine Eins-zu-Eins-Umsetzung des viele hundert Seiten starken monumentalen Comic-Romans ohnehin nicht möglich gewesen wäre.

"From Hell" huldigt visuell wie schon vor zwei Jahren Tim Burtons "Sleepy Hollow" dem klassischen Schauerkino der Marke Hammer. In düstere, rotgetünchte Farben ist das London des viktorianischen Zeitalters getaucht. Der Himmel über dem Armenviertel Whitechapel ist entweder tiefschwarz oder von so blutig roter Farbe wie die ausgeweideten Opfer des Rippers. Dieses London ist allein optisch der Hort des Bösen, ein synthetischer und detailverliebt durchkomponierter Vorhof zur Hölle: Die schlammigen Straßen des Armenviertels wimmeln nur so vor zwielichtigem Gesindel, Tagelöhnern, Bettlern, Zuhältern und Strauchdieben, Verbrechen und Trostlosigkeit lauern hinter jeder Ecke und die Syphilis unter den Röcken der Dirnen. Es ist das London der wabernden Nebelschwaden und der Gaslaternen, nur noch düsterer und morbider als in den durch bisherige Ripper-Adaptionen festzementierten Klischeevorstellungen. Doch das britische Empire fault nicht nur an seiner Oberfläche, sondern auch in seinem Fundament: In einer eindrucksvoll gestalteten Kamerafahrt schwenkt das Bild vom Elendsviertel Whitechapels unter die Straßen von London, wo sich der moralisch degenerierte Adel in fackelerleuchteten Katakomben zu sinistren Geheimversammlungen trifft und sich das England des ausgehenden 19. Jahrhunderts endgültig als Moloch offenbart.

Wie schon in "Sleepy Hollow" bekommt das entschieden und planmäßig vorgehende Böse mit Johnny Depp einen zweifelnden, sentimentalen Antihelden gegenübergestellt: Dieser Inspektor Abberline ist nach Ichabod Crane eine neue Inkarnation des verträumten, romantischen und weltfernen Sonderlings, dem Johnny Depp seit Jahren so treffend Gestalt und Gesicht gibt. Auch ihn umgeben somnambule Traumwelten, hier durch regelmäßigen Opiumkonsum hervorgerufen, mit denen der charismatische, stets leicht verhuscht wirkende und weltverneinende Dandy den Geistern der Vergangenheit in Gestalt seiner verstorbenen Frau zu entfliehen sucht und in denen er die Taten des Rippers voraussieht.

Auch die übrigen Rollen sind darstellerisch glänzend besetzt, angefangen von Robbie Coltrane als gutmütigem Sidekick des lebensunfrohen Helden über Ian Richardson in der Rolle des leitenden Police Inspectors bis zum wie immer wunderbaren Ian Holm als Leibarzt Königin Victorias. Nur Heather Graham in der Rolle der Prostituierten Mary Jane Kelly wirkt als Mutation aus Pretty Woman und Mutter Theresa des Londoner Armenviertels so fehlbesetzt, dass man ihr geradezu wünscht, dem Finsterling im dunklen Umhang möglichst bald ins Sezierbesteck zu rennen.

Während Burton in "Sleepy Hollow" mit dem Entsetzen auch Scherz trieb und damit nicht nur eine tiefe Verbeugung vor dem klassischen Hammer-Grusel vollführte, sondern dessen Regeln auch virtuos tanzen ließ, sich keck über sie hinwegsetzte und sie bisweilen mit allerlei Verfremdungen gar völlig außer Kraft setzte, bleiben die Hughes-Brüder auch inhaltlich den Gesetzen des gotischen Schauers verankert: Auf jegliche Brechung des horriblen Schlachtbanketts wartet der Zuschauer vergeblich.

Stattdessen nähert er sich wie der melancholische Profiler Abberline immer weiter dem Täter, dem nicht nach dem klassischen Prinzip des Whodoneit am Ende die Maske vom Gesicht gerissen wird, sondern dessen Identität sich Indiz für Indiz zu dem gesamten abgründigen Puzzle ergibt. Genauso gerät das blutige Mordgeschehen selbst immer näher, immer detaillierter und immer naturalistischer an das Auge des Betrachters heran, angefangen vom ersten Opfer, bei dem nur ein kurzes Aufblitzen des Messers im Dunklen zu erhaschen ist, bis hin zur exzessiven Blutorgie des fünften Mordes, welches die Hughes-Brüder in absurder, geradezu schmerzender Drastik entfalten.

Doch das Kernthema des Films ist nicht die Frage nach dem Wer sondern vielmehr nach dem Warum und vor allem dem Drumherum. Wer tatsächlich zuletzt von Inspektor Abberline gestellt wird und sowohl Tat als auch Motiv freimütig zugibt, ist beinahe zweitrangig. Denn für die Hughes-Bürder ist Jack the Ripper, dieser Grandseigneur aller Serienkiller, keinesfalls ein Fremdkörper im London des Fin de siecle, sondern nur ein besonders extremer Auswuchs. Die britische Hauptstadt des Jahres 1888 ist für die beiden Filmemacher ein Absurditätenkabinett, welches auch dem Gehirn eines Hieronymus Bosch entsprungen sein könnte, ein Jahrmarkt der Obszönitäten, in denen sich finsterstes Mittelalter mit der Großmannssucht des viktorianischen Zeitalters und des Imperialismus paart. Da werden an lebenden Menschen abstoßende, mittelalterlich wirkende medizinische Experimente vorgenommen und einer Versammlung ebenso wissbegieriger wie staunender Akademiker vorexerziert, Ausländer und Juden denunziert und verleumdet, und der (im übrigen auch historische) Elefantenmensch John Merrick tritt als Zirkusattraktion auf. Das Leben einer Dirne ist in dieser Welt keinen Pfifferling wert: "Ich habe ja nichts dagegen", eröffnet Ian Richardson seinem Untergebenen Johnny Depp offenherzig seine Meinung über die Mordserie. Und natürlich: "Der Täter ist auf keinen Fall ein Gentleman."

Durch diese sozialkritisch angehauchte, mittelschwer dialektisch materialistische Quintessenz gerät das pompös-blutige Sittengemälde der Hughes-Brüder insbesondere in der zweiten Hälfte zu unerwartet schwerer Kost. Vor allem diejenigen, die sich von "From Hell" nur eine rasante Mörderjagd mit raffiniert konstruierter Auflösung oder allein ein Gore-trächtiges Horrorspektakel erwarteten, könnten daher von dem Film enttäuscht sein.

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Diese Kritik ist die Meinung von Johannes Pietsch.

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