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Kino - dafür werden Filme gemacht

Dogville

Kritik von Dietmar Kesten

WER IMMER STREBEND SICH BEMÜHT, DEN KÖNNEN WIR ERLÖSEN?

Dogville ist eine kleine Gemeinde in den Rocky Mountains. Auf der Flucht vor ihren Peinigern taucht dort eines Tages eine Frau auf. Ihr gewährt man trotz anfänglichen Zögerns Asyl. Das Leben in dieser Gemeinschaft muss sie sich allerdings durch permanente Zugeständnisse an ihr eigenes Leben und das ihrer Mitbewohner ständig durch jegliche Art von Verdinglichung erkaufen. Selbst der Mann, der sie liebt, hält nur anfangs diesem Druck stand, am Ende ist es auch er, der sie fallen lässt und nicht bereit ist, sich dem Widerstand der Peiniger zu entziehen. Schließlich wird das Auftauchen der Gangster zur wahrhaften Erlösung für die junge Frau, die sich in einem Verzweifelungsakt gegen Unterdrückung und Ausbeutung dem Grauen auf ihre Art entzieht. Das Drama, besser, eine Passionsgeschichte, die Lars von TRIER („Breaking the Waves”, 1996, “Idioten” 1998, “Dancer In The Dark”, 2000) mit einer dreistündigen Theateraufführung dem Publikum und den Kinobesuchern vorlegt, darf durchaus als Experiment bezeichnet werden.

Der Film „Dogville“ ist Kino im Kino und filmisch vermittelt, eine Theateraufführung im Kino, ein Theater im Kino, der in bester Tradition des epischen Theaters eines Bertold BRECHT spielt, und vielleicht sogar mit den literarischen Verfremdungen eines Franz KAFKA (etwa „Der Prozeß“) zu vergleichen ist. Die Kameraarbeit von Anthony Dod MANTLE und die ausgezeichneten Montagen, tragen dazu bei, die bisher bekannten Grenzen des Kinos neu zu überdenken, und sich zu fragen, ob sich hier nicht seine Zukunft in einer doch mehr und mehr untergehenden Theaterwelt niederschlägt? Erzählt wird in diesem Kinostück die Geschichte von Grace (Nicole KIDMAN), die in einer imaginären Stadt im Maßstab 1:1, bestehend aus Kreidestrichen, die Häuser, Wohnungen, Grünflächen Straßen und Möbel, selbst den Dorfhund markieren, dazu lediglich bestückt mit einigen Requisiten und Geräuschen, die dem Dorf das notwendige Ambiente verleihen, untertaucht.

In dieser fiktiven Stadt geht es eigentlich um all das, was die menschliche Gesellschaft ausmacht und „Dogville“ zeigt die Grenzen der menschlichen Gemeinschaft auf, die sicherlich schon oft erzählt wurde, aber vermutlich noch nie so eindringlich. Die Stadt ist wie ‚Seahaven’ aus der „Truman Show“ (Regie: Peter WEIR, 1998) der klassische Traum Amerikas. Im ersten Augenblick mag man sich mit den aufgesetzten Ethiken nicht zurechtfinden; denn der Dualismus der Bilder spiegelt die Wirklichkeit fein säuberlich voneinander abgegrenzt in postmodernen kleinbürgerlichen Sentimentalitäten wider, die den unverfälschten Menschen zeigen; eben die lebendige Gegenwart und die dazugehörenden Ereignisse. Das menschliche Leben ist eine Einrichtung nebst Fakten, die es nicht nur in „Dogville“, sondern überall auf der Welt gibt. So zeigt das Drama bekannte und unbekannte surreale Bilder. Grace scheint in dieser Stadt sicher; denn Tom Edison (Paul BETTANY jr.) bringt sie vor den Gangstern in Sicherheit und führt sie in Dorfgemeinschaft ein.

Augenlust entsteht, die Bilder kriechen hinterher, Verängstigungen machen sich breit, die sich in kommenden Zukunftsvisionen niederschlagen werden. Doch Grace darf zunächst bleiben, verdingt sich und bietet als Gegenleistung dem Dorf ihre Dienste an. Diese will man zunächst nicht, doch ihr beharren und die Fürsprache Toms führen schließlich dazu, das man einwilligt. Das Erschreckende und Beklemmende, die eigentliche Symphonie des Schreckens beginnt bereits kurz darauf, als sie mit den Lebenslügen des Dorfes konfrontiert wird.

Das Chiffre-Dasein in dieser Welt verkörpern diese Einwohner bestens: es sind die Verkümmerungsformen des menschlichen Lebens in der Moderne, die Verrohung, die allgegenwärtig ist, das Gegenwärtige, von dem der Philosoph Günther ANDERS einmal gesagt hat, dass es nicht mehr möglich ist, „dessen Vergänglichkeit zu widerrufen“ und dass wir uns bereits in einer Zeit „außerhalb der Gegenwart“ (G. ANDERS: Die Antiquiertheit des Menschen) befinden.

Nach einer kurzen Zeit des Lebens in „Dogville“, wird Grace von der einen auf die andere Sekunde mit der Realität konfrontiert. Ein Polizist macht ihre Vergangenheit durch Steckbriefe publik und enttarnt sie als Verbrecherin. Die Dorfbewohner, die sie vorher ausbeuteten, leben nun auch ihr Individuelles Interesse an ihr aus. Sie wird erniedrigt, beleidigt und schließlich von den männlichen Dorfbewohnern vergewaltigt. Grace erduldet diese Schmach mit beneidenswerter Geduld. Doch irgendwann reißt diese Phase jäh ab. Sie schmiedet mit Tom einen Plan aus dieser Stadt zu fliehen. Ein LKW-Fahrer wird hinzugezogen, der jedoch auch nur sexuelle Motive hat. Er bringt sie in die Stadt zurück, und sie muss fortan nun zur Strafe und zur Demütigung ein Hundehalsband mit Glocke tragen, wird an ein eisernes Wagenrad geschmiedet, das dem Dorf ihren momentanen Aufenthalt signalisiert.

Tom, der Möchtegernintellektuelle und verhinderter Schriftsteller informiert die Gangster über den Aufenthaltsort von Grace. Jede Flucht scheint somit im Keim erstickt. Die Gangster fahren vor und das Drama im Drama endet mit Überraschungen und todbringender Apokalyptik. Der ‚Boss’ der Gangster ist Graces Vater, mit dem sie eine Diskussion über Schuld, Vergebung, Vergeltung, Rache und Macht führt. Die scheinbar geläuterte Grace entschließt sich zur blutigen Rache an ihren Peinigern. Das Dorf wird niedergebrannt, die Dorfbewohner massakriert, schließlich bringt sie Tom eigenhändig um.

Interpretiert man dieses Stück als ethisches Stück, dann ist „Dogville“ streng genommen ein Teil unserer alltäglichen Wahrnehmungswelt, die Verdichtung des menschlichen Lebens mit all seinen Neigungen, Facetten und Abartigkeiten. Fiktives und Wirkliches werden nicht gegenübergestellt, sondern real erzählt; denn die wirklichen Teilnehmer dieser Geschichte sind wir als Gefangene unserer eigenen Dummheit und Skrupellosigkeiten. Ist es die Unverwechselbarkeit des Furchtbaren? Ist das Leben nur ein Traum?

MARX sagte einmal: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden Interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Das, was Grace versucht, ist sicherlich ein Beitrag dazu, der ernst zu nehmen ist, weil man gegen das Schicksal kämpft um zu überleben. Doch selbst in der tiefsten Abscheu, die sie erlebt, bittet sie noch um Vergebung und Gnade. Die Veränderungen, die sie mitmacht, entpuppen sich doch letztlich nur als Illusionen, die wie ein Bumerang in die Geschichte geschleudert, als Katapult des Verderbens wiederkommen. Wo nur das Schicksal übrigbleibt, dort gibt es nur die Tragödie, die Obsession des Warenmenschen, wo nur noch Trauer und Verzweifelung spricht, ein Unheil nach dem nächsten angekündigt wird. Doch in diesen Momenten zeigt Grace mit ihrem Hang zur Nächstenliebe, dass sie ohne gestrickte Dramaturgie auskommt, da das menschliche Leben Dramaturgie ist, eben die Präzision im Unterdrückungsbetrieb des modernen Kapitalismus, wo die Untertöne der Melancholie wie das Wetter sind, die Gefühle und Stimmungen, die gestreut werden, sich dem Abgrund nähern.

„Dogville“ hat die Ebene der Abstraktion längst verlassen. Das ‚Herr Knecht Verhältnis’ und die sich dort spiegelnde Auflösung ist die Suche nach der Wahrhaftigkeit des Lebendigen in uns und im Leben. Grace will dem Vergessensdrama um Schuld und Sühne endlich ein Ende zu bereiten, es einholen und zu bewahren: in den zwischenmenschlichen Dimensionen, in den biografischen Zufällen. Doch sie scheitert in ihrem Drang, dem Leben die positiven Töne abzugewinnen, dem kranken Denken ins uns, dem Identitätsbruch zu begegnen. Zwar ist sie keine ‚Ruferin in der Wüste’, sondern ein Teil der Courage, die uns fehlt. Sie sitzt nicht selbstgefällig im Lehnstuhl und erteilt Ratschläge, kommentiert oder begutachtet. Grace verkörpert die Tragödie der Menschheitsgeschichte, gefangen im globalen Herrschaftssystem, gefangen im ökonomischen Terror der Barbarei und der ständigen Bedrohung durch die Gigantomanie der modernen Ware, deren Grausamkeit, das ist das eigentliche Phänomen dieses Kinos, die Ursache schlechthin für all die Scheußlichkeiten, mit denen die Menschen ihr Tagwerk verrichten, ist. Der Schriftsteller Samuel BECKET(„Warten auf Godot“) hätte sich hier einmal mehr wiedergefunden.

Aus einer tiefen Sehnsucht zur Spezies Mensch wird die totale Erniedrigung ihres eigenen Lebens im Geld-Ware-System.

Das ‚Gute’ im Menschen, an das Grace glaubt, ist doch nur ein Mythos. Und wenn sich im Plot der dialektische Antagonismus zeigt, dann ist das nur ein Hinweis darauf, was GOETHE einst Mephisto hat sagen lassen: „Du bist am Ende- was du bist. Setz dir Perücken auf von Millionen Locken, setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken, Du bleibst doch immer, was du bist.“

Dem kann man sich nicht entziehen. Das brutale Filmende ist dann nur ein Zeichen dafür, wie in der heutigen Gesellschaft alle Krisen gelöst werden: nämlich mit brutaler Gewalt. Man hat Lars von TRIER nachgesagt, er würde sich hier der alttestamentlichen Weissagen von ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn’ nähern. Das wäre dann auch keine unbedingte Nähe zum christlichen Dogma, da dieses schon längst in sich vom Klerus selbst durch Glaubenskriege in der Vergangenheit aufgehoben wurde. Wer sich daran stoßen mag, der findet sich in einer Sackgasse wieder, die nur signalisiert, dass diese Opferbereitschaft ein Teil der Gier und der Selbstgerechtigkeit des Individuums ist, das sich durch die Jahrtausende zieht. Lars von TRIER setzt auf die Vorstellungskraft der Filmbesucher. Das erfordert angestrengtes Engagement im Kino. Und in der Nacharbeit fällt es einem buchstäblich aus dem Kopf: die Dämmerung hat längst begonnen. Wir stehen ratlos vor der großen Mauer des Vergessens.

Nicole KIDMAN war selten so gut. Sie liefert die beste Rolle ab, die sie je spielte. Nach „Eyes Wide Shut“ (Regie: Stanley KUBRICK, 1999, „Moulin Rouge“ (Regie: Baz LUHRMANN, 2001, „The Others“ (Regie: Alejandro AMENABAR, 2002) und „The Hours“ (Regie: Stephen DALDRY, 2002) offeriert sie dem Publikum einen Einblick in ihre große schauspielerische Kunst. Erstmalig beweist sie ihre Gabe für die völlige Unterordnung unter ein Ensemble, in dem sie nicht unbedingt die Hauptrolle spielt. Alle anderen agierenden Personen, etwa Paul BETTANY, Katrin CARTLIDGE oder Jeremy DAVIES, stehen ihr in nichts nach. In diesem Stück sind alle famos, doch KIDMAN als Verkörperung der Grace hebt ihre bisherigen Filme durch dieses Bühnenstück im Kino gekonnt auf und lebt von ihrer Kraft und Ausstrahlung, mit der sie diese Rolle interpretiert.

Fazit: Wer diesem Kinostück als Experiment begegnen will, für den ist der Film sicherlich das Highlight des Jahres. Allerdings erfordert er angestrengte Aufmerksamkeit und philosophisches Einfühlungsvermögen, was nicht jedermanns Sache ist. „Dogville“ ist gewagtes Kino, voll mit Resignationen, Tragödien, Untergänge, vibrierenden Bekenntnissen, Qual und Mordlust: jeder Zoom ein Todesurteil für die Spezies Mensch. Doch man kann nur gewinnen, weil immer nur der Augenblick zählt.


Diese Kritik ist die Meinung von Dietmar Kesten.

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