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Kino - dafür werden Filme gemacht

Dancer in the Dark

25. Feb 2001, Café Grenzbereiche, Platenlaase

Kritik von Enno Park

Für fünf Minuten gibt es nur eine leere Leinwand bei leiser, langsam anschwellender klassicher Musik. Wenn das erste Bild folgt, wird es für eine Weile vorüber sein mit Musik, aber nur eine kleine Weile in diesem Anti-Musical, in dem die isländische Sängerin Björk ein Schauspieldebut gibt, das Seinesgleichen sucht.

Björk verkörpert eine junge Mutter, Immigrantin aus der Tschechoslowakei, die mit ihrem kleinen Sohn im Amerika der 50er Jahre mehr haust als lebt. Sie trägt eine große schwarze Brille mit dicken Gläsern - noch denken wir, dass sie einfach ein wenig verhuscht ist. Doch als sie beinahe von einem Laster überfahren wird, als sich die Missgeschicke in der Fabrik, in der sie arbeitet, häufen oder wenn sie den Finger ins Glas hält, in das sie sich etwas zu Trinken einschenkt, wissen wir: Sie erblindet langsam, mit beängstigender Allmähligkeit.

Selma hat eine Erbkrankheit. Ihre Sehschwäche verschweigt sie ihrer Umgebung und auch ihrem Sohn Gene, der sein Augenlicht ohne Behandlung ebenfalls verlieren wird. Jeden Pfennig spart sie an, um eine Augenoperation bezahlen zu können, die ihm dieses Schicksal ersparen soll. Sie arbeitet hart, zwei Schichten in der Fabrik an einer Stanzmaschine und dazu noch Nebenjobs. Ihre scheinbar guten Freunde sind die Nachbarn, ihre einzige wirkliche Freundin aber ist ihre Kollegin Kathy (Catherine Deneuve wunderbar als Fabrikarbeiterin gegen ihren Typ besetzt), die ihr im Kino leise erzählt, was auf der Leinwand gerade passiert. Die Annäherungsversuche eines netten Bekannten wehrt sie ab, weil sie nur das eine Ziel vor Augen hat: solange soviel Geld wie möglich zu verdienen für diese Operation.

Björk spielt ihre Rolle mit atemberaubender Intensität, wie es nur die wenigsten Schauspieler vermögen. In jeder tragischen Wendung des Filmes werden auch abgeklärte Zuschauer tief mit ihr leiden. Sie werden erschrecken, wenn ihr ein mehr oder weniger gefährliches Missgeschick passiert. Sie werden sich unter ständiger Anspannung Sorgen machen, sobald Selma wieder in der Fabrik an ihrer Stanzmaschine steht und sich böse verletzten könnte. Sie werden tief mitfühlen, wenn sie in einer wunderschönen Szene nicht mehr mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, sondern sich an den Eisenbahnschienen orientiert, die sie beim Gehen erspüren kann.

Verletzungen werden Ihr jedoch von völlig anderer, unvermuteter Seite zugefügt, als Selma entdecken muss, dass ihr angespartes Geld plötzlich verschwunden ist, und sie herausfindet, von wem es gestohlen wurde. In diesem Moment setzt sich eine Kettenreaktion in Gang, die in ihrem Fortschreiten, ihrer Ausweglosigkeit und in ihrer letzten Konsequenz zum Verstörendsten gehört, was in den letzten Jahren im Kino gezeigt wurde.

Bewusst werde ich an dieser Stelle die weitere Handlung nicht näher beschreiben, um die vielen kleinen und großen Spannungsbögen und Unvorhersehbarkeiten des Ganzen nicht zu zerstören. Es sei nur gesagt, dass der Film, kurz nachdem das Lied "Next to the last song" endet, die Handlung in einem knappen, aprupten Finale konsequent und gnadenlos ein Ende findet, das dem Zuschauer ein geradezu körperliches Unbehagen bereitet.

Der erwähnte Song ist nur einer von vielen, die Björk für diesen Film geschrieben und eingesungen hat. Diese Lieder tauchen als kleine, schön choreographierte Musical-Sequenzen immer dann auf, wenn noch mehr Schmerz, Ungerechtigkeit und Spannung dem Zuschauer nicht mehr zuzumuten sind. Wer nun denkt, es wäre kitschig, wenn die Leute in so einem ernsten Film einfach anfangen zu singen, sei beruhigt: Geschickt in die Handlung einmontiert, spiegeln diese Tanz- und Musical-Sequenzen nur die Tagträumereien wider, mit denen sich Selma tröstet - und sie vermögen auch den Zuschauer ein wenig zu trösten.

Lars von Trier hat diesen Film weitgehend im "Dogma"-Stil mit wackeliger Handkamera gedreht, was in den ersten Minuten sehr irritierend und gewöhnungsbedürftig ist. Dieser an Doku-Filme erinnernde Stil schafft aber eine Authenzität, die zusammen mit dem beängstigend intensiven Spiel von Björk dafür sorgt, dass Ängste und Gefühle fast wie mit einem direkten Draht in die Gehirne der Zuschauer transportiert werden. Unverständlich bleibt, dass dieser Film ab 12 Jahren freigegeben ist, nicht weil er vergleichsweise besonders blutig wäre und schon gar nicht, weil es ein Thriller wäre (was er auch in keinerlei Hinsicht ist). Allein die seelische Grausamkeit und totale Ausweglosigkeit ist dermaßen stark mitzufühlen, dass dieses grandiose Stück Kino absolut nichts für schwache Gemüter und einfach nur - ich sage es nochmal - hochgradig verstörend ist.

Frankreich/Dänemark, 140 min
mit Björk, Catherine Deneuve, David Morse, Peter Stormare, Udo Kier
Regie Lars von Trier

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Diese Kritik ist die Meinung von Enno Park.

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